15.04.2009 | 19:13 Uhr | kn | Sabine Tholund
Quelle: kn-online.de/schleswig_holstein/kultur/
Salzau: Aatifis Linien und ihre Anatomie
Salzau - Breite, sanft geschwungene Linien in klaren, kräftigen Farben fügen sich zu kraftvollen Schnörkeln. Andersfarbige Kürzel überlagern die rätselhaften Zeichen, die Aatifi als Monotypie, Linolschnitt oder Radierung auf weiße Grundflächen druckt. Ihren Ursprung haben sie in der orientalische Kalligraphie, die einen wichtigen Motivgeber in der Formensprache des im afghanischen Kandahar geborenen Künstlers darstellt. Er ist der erste von sechs Stipendiaten, die in diesem Jahr von einer Jury für einen mehrwöchigen Arbeitsaufenthalt im Landeskulturzentrum Salzau ausgewählt wurden. „Die Anatomie der Kalligrafie ist mir wichtiger als ihr Inhalt“, sagt Aatifi, der meist in Serien arbeitet. In seiner abstrakten „skripturalen“ Malerei und Grafik löst er sich vom traditionellen arabischen Schriftbild. „Lesen kann das keiner mehr, dazu sind meine Bilder auch nicht gedacht“, schmunzelt der seit 1999 in Bielefeld beheimatete Künstler angesichts der großformatigen Blätter, die er teils als frei schwingende Installation in der Torhausgalerie präsentiert. Ihm geht es in erster Linie um die - frei interpretierbare - Komposition der Linien. Durch die extreme Vergrößerung der Schriftzeichen, von denen er nur Ausschnitte „heranzoomt“, werden die opulenten Schwünge zum Bildgegenstand.
„Die arabischen Buchstaben sind eigentlich Zeichnungen, von Bildern abgeleitet. Ich gebe ihnen ihre ursprüngliche Gestalt zurück“, so der 43-Jährige, der sich einen Namen in der Kunstszene Afghanistans gemacht hat und bereits während seines Studiums in Kabul mit zwei bedeutenden Kunstpreisen ausgezeichnet wurde. 1995 ging er ins Exil nach Deutschland, wo er zunächst an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden ein Gaststudium absolvierte. In seiner Wahlheimat erhielt er seitdem mehrere Stipendien und machte zuletzt 2008 mit einer Einzelausstellung beim BBK in Bielefeld auf sich aufmerksam. Seit über zehn Jahren ist die Reduzierung der Formen sein bevorzugtes Thema. Das gilt auch für seine figürlichen Arbeiten, darunter weibliche Aktdarstellungen, die auf Details in der Definition von Körper und Gesicht nahezu gänzlich verzichten. „Das Wesentliche ist die Linie. Sie reicht aus, um den Ausdruck zu transportieren“, sagt Aatifi. Wer seine Bilder sieht, wird ihm Recht geben.
Geheimnisvolle, eigenwillige Formen und Linien kennzeichnen die Arbeiten von Aatifi. Bereits zu Beginn seines Studiums der Malerei an der Faculty of Fine Arts der Universität Kabul 1989 machte er sich in Afghanistan einen Namen als herausragender Künstler, als er vom Kulturministerium des Landes mit dem ersten Preis für Kalligrafie und Komposition ausgezeichnet wurde. Der Preis, der ihm auch im Folgejahr verliehen wurde, galt seinem ungewöhnlichen Umgang mit der Kalligrafie, die er von Kindheit auf bei einem Meister gelernt hat. Im Laufe der Jahre hat Aatifi aus der traditionsreichen orientalischen Schriftkunst eine völlig neue, reduzierte Formensprache entwickelt.
Der Künstler, der heute als Maler und Grafiker im ostwestfälischen Bielefeld lebt und arbeitet, hat sein Sujet in der skripturalen Kunst gefunden. Dabei bedient er sich moderner künstlerischer Stilmittel genauso wie orientalisch-kalligrafischer Anleihen. Der klassischen Definition von Kalligrafie entsprachen seine Bilder schon zu Kabuler Zeiten nicht mehr. Inzwischen präsentieren sich seine fragmentierten Zeichen vollkommen inhaltslos, auf ihre Linienführung reduziert. In seinen Kompositionen geht es ausschließlich um das Zusammenspiel der Formen und ihrer neuen Ästhetik, um Kraft und Dynamik, um Tiefe und Raum. Die Arbeiten entfalten damit eine universelle Wirkung, sie sind frei interpretierbar und zeitlos modern.
Aatifi schafft überzeugende und anregende Bilder mit einem ganz eigenen, kraftvollen künstlerischen Ausdruck. Sie zeigen, dass Bilder dort wirken können, wo Sprache keine Worte findet. So wird Schrift, die ohne konkrete Lesbarkeit auch keine ist, zur imaginären Landschaft.
In seiner Druckgrafik legt Aatifi einen Schwerpunkt auf die komplexe Technik der Aquatinta-Reservage. Sie kommt seiner malerischen Ausdrucksweise am nächsten. Mit seinen zum Teil großformatigen Druckplatten aus Kupfer schafft er filigrane, kraftvolle, farbintensive, kontrastreiche und immer ausdrucksstarke Papierarbeiten.
Quellen:
Martina Bauer, freie Journalistin, Ausstellungsbesprechungen, Katalogtext zu „ Aatifi – Malerei Grafik“, 2008; Christine Dorothea Hölzig, Kunsthistorikerin, anlässlich der Ausstellung zum 18. Sächsischen Druckgrafik-Symposion 2008 in Leipzig
Osmose 1 I 150 x 200 cm I Acrylic on canvas I Aatifi I 2019
Verve 8 I 90 x 120 cm I Acrylic on canvas I Aatifi I 2018
Osmose 2 I 150 x 200 cm I Acrylic on canvas I Aatifi I 2019